Die Terminologie »Der Krebspatient«, ich gebe es zu, gefällt mir grundsätzlich nicht. Jeder Mensch, jederPatient, jede Person mit oder ohne Krebserkrankung ist ein eigenständiges Individuum. Seine Lebensgeschichte, seine Themen, Qualitäten, Verletzlichkeiten usw. sind prinzipiell einzigartig und unterschiedlich. Nie werden wir identische Wesen, Lebensläufe oder Geschichten sehen.
Trotz alldem hat sich gezeigt, dass bei vielen Menschen mit einer Krebserkrankung ähnliche Grundmuster erkennbar sind. Dies ist vergleichbar mit den Grundtönen einer Musik. Sie sind die Basis, auf denen die individuell differenzierten Varia-tionen eines Stückes zu hören sind. Ähnlich den Grundfarben oder den Stilrichtungen eines Bildes, die dann im Bild selbst ihre individuelle Ausprägung finden. Nur so möchte ich diesen Überbegriff »der Krebspatient« verstanden wissen. Kehren wir kurz zum Anfang und dem Auslöser für das Entstehen dieses Buches zurück. Ausgangspunkt waren keine theoretischen Überlegungen oder Analysen, sondern Beobachtungen am Patienten selbst. In meiner Praxistätigkeit fielen mir bei krebserkrankten Menschen nach und nach ähnliche Grundmuster auf, die ich anfänglich schwer erklären konnte. Viele Krebspatienten erschienen mir außerordentlich sensitiv. Sensitiv im Besonderen im Hinblick auf das DU, auf das Gegenüber, den Partner, die Familie, auf das erweiterte Umfeld oder eine Aufgabe. Immer wieder schrieb ich auf das Anamneseblatt: »Würde dem Nächsten sein letztes Hemd geben!«
Als Nächstes entdeckte ich das hohe Harmoniebestreben vieler Patienten, eine hohe Empfindlichkeit gegenüber Missstimmungen, Streit und Ungerechtigkeiten. Dies war meist kombiniert mit einem erhöhten Maß an Selbstzurück-nahme. So fragte ich mich: Wie um Himmels willen bekommen ausgerechnet Menschen mit erhöhter Sensibilität, Harmoniebestreben und Friedfertigkeit eine derart aggressive und destruktive Krankheit wie Krebs? Lange Zeit beschäftigte mich diese Frage. Gängige Antworten wollten mir keinen Sinn ergeben. In einer Weltwie dieser, in der Egoismus, Selbstsucht, Streit und Krieg herrscht, wo allzeit der Stärkere den Schwächeren verdrängt, bräuchte es doch explizit vermehrt Menschen mit einer friedfertigen, harmoniesuchenden Grundhaltung!
Neue Wesenszüge zeigten sich im Verlaufe weiterer Beobachtungen. Eine Vielzahl von Krebspatienten wies ein vermin-dertes Reaktionsverhalten gegenüber Angriffen, Streit, Disharmonie und Konflikten auf. Ich fand: Passivität, Verschlos-senheit, Rückzug, Nachgiebigkeit, dem Gegenüber recht geben und Probleme in sich hineinfressen. Insgesamt handelt es sich um ein selbstunterdrückendes Verhalten, welches das Wesen, die Haltungen und Bedürfnisse des eigenen ICH zurückhält. Die Bedürfnisse werden zwar wahrgenommen, jedoch im Verhältnis viel zu selten ausgedrückt oder gelebt. Bei Widerstand von außen werden sie meist zurückgenommen und weggesteckt. Ein solches Verhalten führt zwangsläufig zu tiefen Frustrationen und Entwicklungsbehinderungen.
Aufgrund meiner Beobachtungen treffen diese von mir hier beschriebenen Erkenntnisse auf ungefähr 70–80 Prozent der beobachteten Krebspatienten zu. Weitere 20–30 Prozent der Krebspatienten sind, wenig überraschend, mit der entgegen-gesetzten Thematik beschäftigt. Hierbei herrscht nicht die zu große Empfindlichkeit und Überanpassung gegenüber dem Außen vor, sondern eine übermäßige Abgrenzung. Meist aus einer blockierten, angstvollen Haltung dem Leben gegenüber, bauen diese Menschen ein System von extremer Kontrolle und Abgrenzung gegenüber der Außenwelt auf. Übermäßige ICH-Impulse und Eigenbedürfnisse zeigen sich: Dominanz, Härte, Abgrenzung, Unnachgiebigkeit, Streit- und Kampfenergie. Die Wahrnehmung des Gegenübers, die Rücksichtnahme auf dessen Bedürfnisse bleibt weitgehend aus. Auch hier ist die Grenze vom ICH zum DU, vom Innen zum Außen, nur einseitig durchlässig. Hier ist das ICH quasi einge-mauert. Es nimmt einseitig Kontakt zur Außenwelt auf, indem es dirigiert, kontrolliert, anweist, sich durchsetzt. Die Interaktion ICH und Außenwelt, als zentraler Aspekt jeglichen Lernens und Entwickelns, bleibt somit ebenso blockiert. Das Ergebnis ist synonym mit der Hauptthematik. In beiden Fällen bleibt die lebenswichtige Interaktion mit der Außenwelt aus. Austausch, Konfrontation, Erfahrung und Entwicklung finden kaum statt. Dieser Stau führt zum Ersticken. Und auf der physischen Ebene werden Krebszellen nicht mehr ausreichend ernährt. Auch sie ersticken, verschlacken, entarten und explodieren. Bei vielen Krebserkrankten erkenne ich das Grundmuster, sich sehr stark auf das Gegenüber, auf das DU abzustützen. Die Ausrichtung des Geistes ist auf die Anliegen, Bedürfnisse und Reaktionen des DU fixiert. Gedanken, Entscheidungen und Handlungen beziehen sich in hohem Maße auf das Gegenüber oder die Ansprüche des Lebens. Die eigenen Intentionen, Wünsche und Entwicklungsaufgaben werden untergeordnet. Dies führt zu einem, dem Leben widerstrebenden Energie-ungleichgewicht. Es handelt sich hierbei um ein sehr subtiles Prinzip. Selbst bei einem Verhältnis 49 Prozent ICH- zu51 Prozent DU-Orientiertheit, wird die Person im Entscheidungsfall fatalerweise immer zum DU tendieren.
Der zentrale Aspekt jeglichen Lebens ist, schon aus biologischer Sicht, die Selbsterhaltung. Das Selbst zu erhalten bedeutet, eigenen Bedürfnissen aller Art hohe Aufmerksamkeit zu schenken. Jedes ICH ist das Zentrum seines Universums. Alles in seinem Umfeld kann sich jederzeit verändern, allein das ICH bleibt. Darum fordert das Leben dazu auf, das ICH in hohem Maße zu berücksichtigen und aus diesem Zentrum heraus auf das DU, die Außenwelt zuzugehen. In einem solch gesunden System agiert der Mensch aus dem eigenen ICH heraus, zeigt sich dem DU und nimmt dessen Resonanz als Impuls für die weitere Eigenentwicklung auf. Es beinhaltet den Einbezug des DU ins eigene Agieren. Der aus dem ICH Agierende berück-sichtigt und achtet das DU, fügt ihm nicht bewusst Schaden zu, geht aber Konflikten, Reibung und Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg. Er bringt seine Bedürfnisse ein und baut sich seine Umwelt entsprechend. Dies ist der Weg, den die Hauptgruppe der Krebsbetroffenen beschreiten sollte.
Bei der oben beschriebenen zweiten Gruppe liegt die Problematik umgekehrt. Das ICH nimmt keinerlei Rücksicht auf das DU. Es lässt keine Impulse von außen in seine abgeschottete Welt hinein und bleibt daher dem Leben gegenüber isoliert, eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung kann nicht stattfinden. Der Weg dieser Patienten liegt somit in der Öffnung, dem Eingehen auf das Leben, dem Zulassen von Impulsen aus dem Außen, ohne das eigene ICH zu vernachlässigen oder aufzugeben. . . . . . . . .